Das Alphabet der Bürgermeister

Brief an den Bundeskanzler

Während in Deutschland die Lesekompetenz der Neuntklässler (vgl.hier) sich weiter bedenklich verschlechtert, erfinden die Oberbürgermeister der drei Städte Schwäbisch Gmünd, Tübingen, Esslingen das Alphabet der überbordenden Bürokratie in einem Brandbrief an Bundeskanzler Scholz neu. Der Brief mit den Kuriositäten aus den Amtsstuben liegt AGORA-LA vor. Aus Platzmangel veröffentlicht AGORA-LA die Einleitung, den Schluss des Briefes und die Einlassungen zum Buchstaben A:

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

Schwäbisch Gmünd / Tübingen / Esslingen, 9. Oktober 2023

als schwäbische Oberbürgermeister begrüßen wir Ihre Initiative für einen Deutschlandpakt und ganz besonders für den damit umfassten Vorstoß zum Abbau von Bürokratie sehr.

Wir machen in der Praxis jeden Tag die Erfahrung, wie lähmend die Summe der Vorschriften in unserem Land geworden ist. Und leider ist keine Trendwende zu erkennen, im Gegenteil, beinahe täglich müssen wir uns über neue, verschärfte Regelwerke beugen und Bürgern erklären, was eigentlich niemand mehr wirklich versteht. Das Problem in seiner ganzen Dimension wird erst verständlich, wenn man es an Beispielen aus der Praxis festmacht. Wir wollen Ihnen daher mit Beispielen von A bis Z – quasi aus dem Maschinenraum der Republik – veranschaulichen, wie absurd sich viele Vorschriften auswirken und einige Vorschläge unterbreiten, wie Bürokratieabbau gelingen kann. Wir haben dabei eine strenge Auswahl getroffen und konnten das Problem trotzdem nicht in weniger als elf Seiten beschreiben.

A wie Aufenthaltsgestattung

Immer häufiger ist von Überlastung und langem Bearbeitungsrückstau in Ausländerämtern deutschlandweit zu lesen. Auch in der Esslinger Ausländerbehörde, dem Bürgerservice Einwanderung, steigt der Arbeitsanfall aufgrund von Zuwanderung und Bürokratie. Gerade im Ausländerrecht gibt es Vorgänge, die wesentlich bürokratieärmer gestaltet werden müssen.

Grundsätzlich dürfen Ausländer, die im Besitz einer Aufenthaltsgestattung sind und noch verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Es sei denn, die Bundesagentur für Arbeit stimmt zu und erlaubt dies (§61 Abs.1 Nr. 2 AsylG). Die Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis wird über die Seite des Bundesverwaltungsamtes direkt an die Bundesagentur für Arbeit weitergeleitet. Die Bearbeitung der Anfragen durch die Entgegennahme der Erklärung zum Beschäftigungsverhältnis ist insofern mit Mehrarbeit verbunden, da viele Kunden nicht nur eine Erklärung abgeben, sondern gleichzeitig mehrere. In der Mehrzahl der Fälle wird dies mit dem Wunsch eines Arbeitgeberwechsels aufgrund besserer Bezahlung begründet. Hierzu müssen sämtliche Daten aus dieser Erklärung erneut ins System eingegeben werden (obwohl die Daten ja eigentlich schon da sind). Die Erklärung zum

Beschäftigungsverhältnis muss eingescannt werden und wird ebenfalls an die Bundesagentur für Arbeit verschickt.

Nachdem die Zustimmung bei uns eingegangen ist, wird dem Kunden eine neue Aufenthaltsgestattung mit entsprechender Beschäftigungserlaubnis ausgestellt. Wenn aber der Kunde in der Zwischenzeit eine neue Erklärung abgibt, muss der gesamte Prozess wiederholt werden. Das bedeutet, dass die Kunden der Ausländerbehörde mehrmals persönlich in der Ausländerbehörde vorsprechen müssen. Dies stellt einen enormen Mehraufwand dar, da ein Arbeitgeberwechsel in vielen Fällen alle paar Wochen stattfindet. Oftmals findet der Arbeitnehmer ein vermeintlich besser bezahltes Arbeitsverhältnis kurz nach dem Vorliegen der Zustimmung und stellt einen neuen Antrag, bevor das ursprünglich beantragte Arbeitsverhältnis gar überhaupt zustande kommt.

Aktuell befinden sich ca. 1.600 Personen in Duldung und Gestattung im Zuständigkeitsbereich der Esslinger Ausländerbehörde. Davon sind über 1.000 im erwerbsfähigen Alter und beantragen die Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit. Bei einem regelmäßigen Arbeitgeberwechsel ist es nicht selten, dass ein Kunde sechs bis acht Mal im Jahr vorstellig wird. Dies belegt wertvolle Kapazitäten unserer Mitarbeitenden, die für die Bearbeitung anderer Fälle fehlen. Eine Erleichterung wäre es, wenn die Anfragen an die Bundesagentur entfallen würden und sich bei z.B. sehr häufig vorkommenden Fragen zum Mindestlohn die Kunden an eine zentrale Beratungsstelle wenden könnten.[. . . ]”

Am Schluss schreiben die drei OBs:

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

aus Gesprächen mit vielen Kollegen wissen wir, dass dies keine exotischeren Einzelfälle sind. Jeder Bürgermeister kann abendfüllende Geschichten über haarsträubende Auswirkungen von zu komplizierten und sinnlosen Vorschriften erzählen. Trotzdem wird über Bürokratieabbau immer nur geredet. Der Grund ist einfach: Mit bürokratischen Methoden erzeugt man immer nur neue Bürokratie. Kommissionen zum Abbau von Bürokratie sind ein Widerspruch in sich. Das „Deutschlandtempo“, das Sie sich zu Recht wünschen, setzt ein grundsätzliches Umdenken voraus. Wir sehen dafür fünf wesentliche Ansatzpunkte.

1. Die Angst vor der Verantwortung überwinden

Von Jahr zu Jahr werden die Geländer immer höher, die Fundamente immer dicker, die Fluchtwege immer breiter. Das passiert auch, wenn gar keine Gesetzesverschärfung stattgefunden hat. Wenn ein konkreter Sachverhalt zu bewerten ist, dann gerät immer der in Rechtfertigungsdruck, der etwas erlaubt. Wer hingegen unter Verweis auf die Sicherheit von Menschenleben etwas verbietet, ist selbst auf der sicheren Seite. So setzt sich mit der Zeit immer die strengere Interpretation der Vorschriften durch. Es gehört viel Überzeugung und persönliche Risikobereitschaft dazu, etwas zu gestatten, das andernorts aus Gründen der Sicherheit untersagt ist. Gegen diese Eskalationsspirale der Angst sind Klarstellungen nötig. Niemand sollte ein persönliches Risiko tragen, wenn er Forderungen ablehnt, die über das Gesetz hinausgehen. In vielen Bereichen wäre es sogar sinnvoll, der Gesetzgeber würde es verbieten, dass seine Vorschriften zum Beispiel von Versicherungen eigenmächtig verschärft werden.

2. Die Suche nach den Schuldigen einstellen

Eng verbunden mit der Angst vor Verantwortung ist die Lust an der Suche nach Schuldigen. Wenn es zu einem tragischen Unglück kommt, ist die erste Frage der Medien und später der Staatsanwälte, wer daran schuld ist. Lag dem Unglück eine Genehmigung zu Grunde, wird auf diejenigen gezeigt, die unterschrieben haben. Das Wissen um dieses Risiko sorgt dafür, dass jedes noch so sinnlose Papier eingefordert wird, um selbst auf der sicheren Seite zu sein. Dass dabei meistens kein realer Sicherheitsgewinn mehr zustande kommt, spielt keine Rolle. Das englisch trefflich „blame game“ genannte Spiel sollten wir bleiben lassen.

3. Altpreußischen Perfektionismus überwinden

Je mehr ein Land durchreguliert ist, umso geringer ist der Zugewinn weiterer Regeln. Der Begriff des Grenznutzens ist aus der Ökonomie wohl bekannt, in der Bürokratie aber weithin verkannt. Ob es sich noch lohnt, auf ein Schutzniveau von 99% weitere 0,1% draufzusatteln, wird kaum diskutiert, vor allem nicht, wenn es um Gefahren für Leib und Leben geht. Das klingt auf den ersten Blick richtig, jedes Leben ist kostbar. Es ignoriert aber, dass ein Leben ohne Risiko gar nicht so lebenswert ist – man muss dazu nicht mal Ski oder Auto fahren, es reicht schon, einen Schrank auszuräumen oder ins Restaurant zu gehen, nichts davon ist 100% sicher. Und es missachtet, dass in einer Welt begrenzter Ressourcen ein extremer Aufwand für ein Problem dazu führt, dass man andere Probleme unbeachtet lässt. Wir müssen als Gesellschaft Risiken besser bewerten und Restrisiken als solche akzeptieren.

4. Silodenken überwinden

Bürokratien sind hierarchisch organisiert und in Silos zergliedert. Man nennt das Zuständigkeit. Was die Zuständigkeit anderer ist, geht mich nichts an. Dieser Insel-Perfektionismus produziert so schwere Fehlkalkulationen. Manche Sicherheitsvorschriften führen nur im Verantwortungsbereich des Zuständigen zu einer Verbesserung, aber insgesamt betrachtet zu einer Verschlechterung. Wer Normen verschärft, sollte daher nachweisen müssen, dass der Schaden an anderer Stelle nicht weitaus größer ist als der erhoffte Nutzen.

5. Problemdistanz des Normgebers verringern

So wie der Blick nach rechts und links oft fehlt, ist auch die Entfernung zum Problem häufig ein Problem. Wenn wir in den Rathäusern fragen, wer sich das denn nun wieder ausgedacht hat, ist das meist schwer zu beantworten. Mal ist es ein Fachgremium, das gar keine demokratische Legitimation hat, aber durch Verweise in Verordnungen quasi Gesetzgebungskompetenz erlangt hat. Mal ist es ein Parlament, das aus kommunaler Sicht drei oder vier Hierarchiestufen entfernt ist und wenig davon mitbekommt, was die jüngste gut gemeinte Gesetzesverschärfung vor Ort verursacht. Die berühmte Brüsseler Gurkenkrümmungsverordnung gibt es zwar nicht mehr, aber die Datenschutzgrundverordnung hat sie in Eingriffstiefe und Absurdität längst überholt. Die Länderkammer sollte die Interessen der kommunalen Basis im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen, tut dies aber mangels Kompetenz selten. Städte und Gemeinden müssen daher institutionell stärker eingebunden werden, wenn sie Regelungen umzusetzen haben.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

Regelungen schaffen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit. Sie tragen damit zum Florieren der Wirtschaft und zum Frieden in der Gesellschaft wesentlich bei. Seit Paracelsus wissen wir aber, dass die Dosis das Gift macht. Wir haben in Summe und in vielen Teilbereichen das verträgliche Maß an Bürokratie längst überschritten und befinden uns bereits im anaeroben Bereich, wo nicht mehr viel fehlt, bis alles kippt. Wir halten es daher nicht nur ethisch, sondern ganz praktisch für dringend geboten, die Gründe für das Ausufern der Bürokratie zu beschneiden und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Dafür ist mindestens eine Diskussion der fünf hier diskutierten Aspekt in der Gesellschaft notwendig. Denn viele rufen zwar nach Abbau von Bürokratie, wollen aber mit der Konsequenz von mehr Eigenverantwortung nicht leben.

Wenn wir es nicht schaffen, das Dickicht der Bürokratie zu lichten, wird der Personalmangel in der öffentlichen Verwaltung das Problem auf unkonventionelle Weise lösen. Es gibt die Leute schlicht nicht mehr, die all die Vorschriften lesen, verstehen und anwenden könnten. Auch Verwaltungen können nicht zu etwas verpflichtet werden, das zu leisten objektiv unmöglich ist. Der Tag ist nicht mehr fern. Zeit zu Handeln. Am besten unbürokratisch.

Aus unserer Sicht als Oberbürgermeister wäre dies die einfachste und am schnellsten wirksame Maßnahme: Geben Sie den Kommunen das Recht, begründet von Vorschriften und Normen abzuweichen, wo dies vor Ort notwendig erscheint. Wir brauchen eine kommunale Abweichungskompetenz von den zigtausenden Vorschriften, Normen und Richtlinien, die kein Parlament je beschlossen hat. Nur was wörtlich im Gesetz steht, sollte unumstößlich gelten. Alles andere sollte mit guten Gründen und durch Ermessensentscheidung den Erfordernissen der Wirklichkeit angepasst werden dürfen.

Artikel 28 des Grundgesetzes garantiert den Kommunen das Recht auf Selbstverwaltung. Mittlerweile wird dieses Recht durch den stetig wachsenden Vorschriftendschungel geradezu stranguliert. Die Bürokratie überwältigt die Demokratie. Schenken Sie uns Kommunen mehr Vertrauen. Wir haben hervorragende Mitarbeiter in den Genehmigungsbehörden, starke Gemeinderäte und vom Volk gewählte Verwaltungschefs. Wer den Entscheidern vor Ort den Rücken stärkt und ihnen Ermessenspielräume schafft, wird das Deutschlandtempo erreichen. Wir in den Kommunen können und wollen das. Nur sollten wir es auch dürfen.

Mit freundlichen Grüßen

Richard Arnold Oberbürgermeister der Stadt Schwäbisch Gmünd

Boris Palmer Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen

Matthias Klopfer Oberbürgermeister der Stadt Esslingen am Neckar

Einige weitere Kuriositäten finden Sie hier beim SWR in Ausschnitten. Hoffentlich besitzt wenigstens der Bundeskanzler genug Lese-und Hörverständnis!

Trotz aller Krisen einen schönen Sonntag wünscht AGORA-LA!

AGORA-LA freut sich über Spenden, s.Impressum

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